Telemedizin in Zeiten von Covid-19
Auch ohne persönlichen Arztkontakt muss eine qualitativ hochwertige medizinische Versorgung möglich sein. Wer schon länger mit diesem Anspruch Gesundheitsversorgung gestaltete, war für die Covid-19 Pandemie gut gerüstet. Bestand der Verdacht oder die Gewissheit, an Covid-19 erkrankt zu sein und waren Ärzte sowie Krankenkassen vorbereitet, konnten schnell das telemedizinische Angebot genutzt und unnötige Kontakte und Infektionsrisiken vermieden werden. Die Vergütung für die Telefon- und Videosprechstunde wurde entsprechend ausgeweitet bzw. entdeckelt. Ärzte konnten ihren Patienten ohne finanzielle Einbußen die Fernbehandlung anbieten und das Angebot wurde gut angenommen. Besonders profitierten dadurch Risikogruppen wie Diabetiker, die sich gar nicht erst der erhöhten Infektionsgefahr in den Praxen aussetzen mussten wenn sie auf eine telemedizinische Lösung zurückgreifen konnten.
Das schnelle und flexible Agieren von Politik, Kassenärztlicher Bundesvereinigung (KBV), Spitzenverband Bund der Krankenkassen (GKV Spitzenverband) und medizinischem Personal war notwendig und gut. Die Notwendigkeit zeigte aber auch, dass Deutschland nach wie vor weit zurückliegt was den Ausbau der Telemedizin angeht. „Schade, dass wir in Deutschland nicht mehr Telemedizin haben, dann wäre es deutlich leichter“ wurde Prof. Lothar Wieler, der Präsident des Robert Koch Instituts (RKI), zitiert. Online verordnete Medikamente, Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen (AU) und Onlinesprechstunden etwa waren nur vereinzelt implementiert.
Estland belegt in einem internationalen Vergleich der Bertelsmannstiftung 2018 den ersten Platz bei der Digitalisierung des Gesundheitssystems. Deutschland landet im selben Vergleich auf dem vorletzten Platz. Entsprechend bestehen in Estland ganz andere Möglichkeiten, auf eine telemedizinische Versorgung umzustellen. Die vor etwas mehr als zehn Jahren eingeführte elektronische Patientenakte ermöglicht das augenblickliche Übermitteln von allen relevanten Gesundheitsdaten beim Arztwechsel auch in Zeiten von Covid-19. Die zahlreichen Vergütungsmöglichkeiten bei Telekonsilen zwischen den verschiedenen Fachärzten ermöglichen das schnelle Einholen von Expertenwissen wenn vom Hausarzt gewünscht. Innovative StartUps wie Dermtest werden in diesem Umfeld groß und schließen Lücken, die sonst nicht aufgefallen wären: Sie stellen die telemedizinische Infrastruktur bereit, um nicht nur Text und Audio sondern auch Telekonsile mit hochauflösenden Bildern von Patienten zu den Ärzten kommen zu lassen. So werden abermals unnötige Arzt-Patienten Kontakte reduziert.
In Estland fällt die telemedizinische Antwort auf Covid-19 ganzheitlicher aus weil die Vorbedingungen besser sind. So können wesentliche Teile der gesundheitlichen Versorgung während der Pandemie auf einem hohen Niveau weitergeführt werden. Ein Grund dafür ist, dass die Vorteile der Telemedizin abseits von Pandemien lange vorher erkannt wurden. Telemedizin reduziert ortsunabhängig die Wartezeiten auf Diagnose und Therapie und somit letztlich auch Behandlungskosten und Mortalität von schweren Krankheitsverläufen wie es etwa beim schwarzen Hautkrebs der Fall sein kann. Doch auch in Deutschland ging der Berufsverband der Deutschen Dermatologen (BVDD) noch vor der Covid-19 Pandemie in seiner „Praxis der Teledermatologie“ auf die Vorteile der Telemedizin ein und gab den deutschen Dermatologen einen Leitfaden für deren sicheren Einsatz.
Die Covid-19 Pandemie ist eine Erinnerung an die zahlreichen Vorteile der Telemedizin. Da deren Implementation aber auch zahlreiche Fallstricke parat hält, lohnt ein Blick nach Estland. Die dort entwickelten Lösungen können die Entwicklung der Telemedizin in Deutschland entscheidend beschleunigen. Die Veröffentlichungen des BVDD und die hohe Nachfrage der Patienten zeigen, dass weite Teile des deutschen Gesundheitssystems durchaus bereit sind für mehr Telemedizin.
Dr. med. Christian Koop